Kernschatten (Nils Westerboer, 2023) – Wie finster kann eine Nacht werden?

Ein Fotolaborant, ein Polizist, eine Gruppe Physiker und eine Mathematikerin kommen in eine Bar. Die Bar heißt New-Weird und serviert einen Cocktail aus Science-Fiction, Kriminalgeschichte, Thriller und Atomzeitalter Ästhetik, der seinen Ursprung am CERN in der Schweiz hat und sich schneller ausbreitet, als es den Protagonisten lieb ist.

In der Physik wird der Kernschatten als der Punkt hinter einem Objekt, welches von zwei oder mehr Lichtquellen bestrahlt wird, bezeichnet, an dem keine der Lichtquellen hingelangt. Dies ist eine vortreffliche Beschreibung der einzelnen Charaktere und deren Wissen um die Ereignisse, die sich in dieser einen Nacht um sie herum ereignen und Dinge in Bewegung setzen, die zuvor am CERN in der Schweiz bereits ihren Anfang fanden. Wie sehr sie sich auch bemühen, wie sehr sie auch versuchen an Informationen zu gelangen, es bleibt immer dieser Kernschatten, dieser kleine Winkel in ihrem Wissen um das Geschehen, welcher in absoluter Dunkelheit verweilt.

Es spielt keine Rolle wie viel man aus der Science-Fiction bereits gelesen hat, die letzten Jahre haben gezeigt, dass es immer wieder Neuerscheinungen gibt die zu begeistern wissen. Gerade, weil die Science-Fiction auch gut darin ist sich neu zu erfinden und neue Wege zu gehen. Liu Cixin hat dies bereits eindrucksvoll bewiesen aber auch Jeff VanderMeer oder China Miéville, dürfen nicht unerwähnt bleiben. Gerade die Assoziation mit diesen Autoren, die beim Lesen immer wieder einem in den Sinn kommen, führt zu der Überlegung, ob dieser Roman überhaupt der Science-Fiction komplett zuzuordnen ist. Kernschatten ist weder ein reiner Science-Fiction Roman noch eine Vollblut Kriminalgeschichte. Dies ist auch der Grund für die bereits erfolgte Andeutung, dass der Roman dem New-Weird zu zuordnen ist. Zwar geht Nils Westerboer noch sehr zaghaft in diese Richtung aber durchaus mit energischem Schritt.

Dies liegt auch daran, dass zwar durch die einzelnen Kapitelaufteilungen durchaus eine Unterscheidung der erwähnten Gerne stattfindet doch diese Grenze verschwimmt im Verlauf der Geschichte zusehends. In einem Moment befindet man sich noch Seite an Seite mit Columbo oder Mike Hammer und ehe man sich versieht, steht man in einer Forschungseinrichtung, die ihres Gleichen sucht. Ab einem Punkt will der Autor diese Abgrenzung auch gar nicht mehr aufrechterhalten, sondern lässt es nur noch geschehen, ja fragt schon fast provokativ, was überhaupt Genre sind. Sehr spannend!

Noch zu erwähnen sind kleine Andeutungen an philosophische Fragen des Seins und auch der Versuch an so mancher Gesellschaftskritik. Beides wird nicht weiter ausgebaut, was der Geschichte gut tut aber dennoch in solch einem Maße vorkommt, dass man kurz darüber nachdenkt und es als erfrischend empfindet, dass man nicht als einziger darüber nachdenkt. Der Autor zeigt damit, dass sein Roman durchaus fest in der realen Welt verankert ist, sehr angenehm.

DIE GESCHICHTE (ohne Spoiler)

Der Große Hadronen Speicherring (LHC, Large Hadron Collider) im CERN in der Schweiz ist durchaus eine Einrichtung, der nicht nur mit Freude entgegengetreten wird. Dies belegt auch eine Klage, welche bereits 2008, noch vor der Inbetriebnahme der Anlage, eingereicht wurde (Quelle: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/experiment-in-genf-gericht-weist-eilantrag-gegen-superbeschleuniger-ab-a-575275.html).

Selbst wenn man sich nicht mit der Thematik befasst, kennt man doch diese Einrichtung und spätestens, nachdem man dieses Buch gelesen hat, kann man die Einreichung dieses Klage durchaus ein Stück weit nachvollziehen. Natürlich bewegen wir uns hier immer noch in einer Fiktion aber nichtsdestotrotz ist das Was wäre wenn? Szenario in Kernschatten kein erstrebenswertes.

Mika Mikkelson könnte ein so einfaches Leben führen. Im Fotostudio, in dem er nach seinem Studium angefangen hat zu arbeiten, seine Praktikanten betreuen, die dezent schrägen Fotoideen seines Chefs umsetzten und ab und zu in der Dunkelkammer des Fotolabors verschwinden. Doch dann bekommt er Besuch von einem seltsam erscheinenden Mann, der ihm für einen Auftrag unverschämt viel Geld anbietet und er kann einfach nicht widerstehen. Was er nicht zu ahnen wagt, all die Ereignisse, die zu dieser Begegnung führen, und danach noch stattfinden werden, übersteigen sein Vorstellungsvermögen bei weitem. Hätte er sich doch einfach nur ein Bier gekauft und wäre direkt in die Sauna gegangen. Doch er entschied sich für einen anderen Weg.

Zur gleichen Zeit wird der frisch gebackene Detektiv der hiesigen Polizei zu einem Erfrierungsopfer in einem Park gerufen, sein Name ist Kolja Blok und auch er kann sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal im Entferntesten vorstellen, was diese Nacht noch alles für ihn parat hält. Nicht dass er so oder so bereits an der Sinn und Sinnhaftigkeit seiner Beförderung zweifeln würde, hatte er noch nicht mal irgendwas Schriftliches erhalten. Nur ein Anruf seines Vorgesetzten gefolgt von dem Befehl, sich zum Tatort zu begeben. Hier wird er bereits von Beamten erwartet die ihm nicht nur mit Missgunst begegnen, sondern gleichzeitig genauso wenig dort sein wollen wie er.

Irina Rosenbusch ist die bereits erwähnte Mathematikerin und zu Anfang nur das Objekt der Begierde, welches von Mika angeschmachtet wird, während er den Auftrag des seltsam erscheinenden Mannes ausführt. Doch kaum hat sich dieses Bild dem Lesenden offenbart, schon wendet es sich um 180 Grad und Irina wird zu einem essenziellen Bestandteil der Geschichte und wächst darüber hinaus.

Über die Gruppe der Physiker muss an dieser Stelle geschwiegen werden, nicht nur weil ihre Forschung streng geheim ist, sondern weil es zu viel der Geschichte vorwegnehmen würde. Nur so viel sei gesagt, als sie ihr Experiment am CERN beendeten, kam dabei nicht nur Gutes hervor.

Diese Charaktere könnten unterschiedlicher nicht sein und doch werden sie durch etwas verbunden, was selbst die dunkelste Nacht in Murmansk (Russland) noch in den Schatten stellen würde.

Zu keiner Zeit lässt der Autor den Lesenden lange in der Luft hängen bzw. versäumt es, ihn mit Informationen zu versorgen. Gerade beim fortschreitenden Verlauf der Geschichte und der damit einhergehenden Entwicklung der Charaktere schafft er es immer, gerade genug Informationen zu liefern, dass man weiterlesen möchte, um zu erfahren, wie die Entwicklung dieser Welt wohl aussehen mag. Dabei verdichtet er die die Geschichte gegen Ende hin immer weiter, was auch durch die eigenwillige Anordnung der Kapitel geschieht. Es fühlt sich an, wie eine klassische Kriminalgeschichte, in der die Enthüllung des Mörders kurz bevorsteht und doch sind da diese Elemente, die gerade zu solch einer Geschichte nicht wirklich passen.

WIE IST DIE GESCHICHTE GESCHRIEBEN?

Es gab Momente im Buch, da kann es durchaus passieren, dass kurzeitig ein wenig Schnappatmung aufkommt, denn die genutzten Begriffe sowie Titel von Dissertationen, Artikeln und Arbeiten sorgen für Schwindelgefühle. Glücklicherweise hält dies nicht sehr lange an und beschreibt nur eine sehr kurze Passage des Buches. Über das ganze Werk hinweg nutzt der Autor eine leicht und flüssig zu lesende Ausdrucksweise. Zwar wird hier und da durchaus auch mal etwas Latein eingeworfen oder doch ein nicht all zu gebräuchliches Fremdwort, aber dies dient eher der Exotisierung der jeweiligen Figur. Trotz der komplexen Thematik, die über der Geschichte steht, verliert sich der Autor zu keinem Zeitpunkt in Erklärungsversuchen oder bombardiert den Lesenden mit Fachbegriffen. Verwirrendes Technobabbel gibt es hier nicht. Zwar handelt es sich um Wissenschaft und höhere Physik, doch diese wird auf ein angenehmes Maß heruntergebrochen, so dass man den vorhandenen Erklärungen leicht folgen kann.

Der Autor nutzt immer die Erzählperspektive der dritten Person, geht dabei aber nie über das Wissen dieser Person hinaus, über die gerade erzählt wird. Vermischt wird das mit einer genauen Dosierung an Informationen was dafür sorgt, dass man als Lesender über den gleichen Wissensstand verfügt wie die gerade agierende Person. Für die Immersion ist dies ein großer Pluspunkt. Man fühlt sich näher an der Figur und teilt die Eindrücke, die auch sie erfährt.

Ein weiterer, sehr angenehmer Punkt, den Nils Westerboer mit Bravour meistert ist die Beschreibung der jeweiligen Szene und des Settings in seiner Gänze. Einerseits beschreibt er sehr detailliert und deutlich wo die Hauptfigur und der Lesende sich gerade aufhalten. Diese Beschreibung ist ausreichend für ein Stimmungsbild und dient gleichzeitig zur Einordnung der Umgebung für die Figur. Hierbei verliert er sich andererseits aber nicht in zu vielen Details, so dass zu keinem Zeitpunkt Ermüdungserscheinungen auftreten.

All diese Punkte zusammengeführt bilden die Stadt Murmansk (Russland) und es spielt keine Rolle, ob man bereits dort war oder nicht, der Autor entführt einen direkt in das Herz der Stadt und zeichnet von dort aus ein Bild welches in keinem Reiseführer zu finden sein wird. Wie bereits erwähnt spielt es dabei keine Rolle, ob wir uns gerade in einer Hafengegend, der Innenstadt oder in einem verschneiten Park aufhalten. Es wird immer sofort klar wo man sich befindet, wer alles dabei ist und wie eisig kalt es gerade ist. Die eigene Vorstellungskraft kann mit dem, was ihr zur Verfügung gestellt wird aus dem Vollen schöpfen und kreiert dabei eine ganz eigene Welt.

ÜBER DEN AUTOR

Nils Westerboer wurde am 25. Januar 1978 in Gaildorf geboren. Zu seiner Schulzeit wünschte er sich bei der Nase Raketenanzünder und später Monsterfilmregisseur zu werden. Nachdem er 1997 das Abitur erfolgreich abschloss, führte sein Leben ihn nach Israel, wo er als Hausmeister, Elektriker, Trainer für Sprengstoffsuchhunde und Betreuer für Menschen mit Behinderung tätig war. Nachdem er sein Studium der Filmwissenschaft in Jena abschloss arbeitete er als Naturfilm Kameraassistent beim ZDF und NDR. Ein Studium der Germanistik und Evangelischen Theologie folgten, bis er 2012 sein Lehramt in Gera antrat und dort bist heute tätig ist.

2015 wurde er für den deutschen Science-Fiction-Preis nominiert, und zwar mit seinem damaligen Debütroman Kernschatten. 2022 folgte sein nächster Science-Fiction Roman Athos 2643, der auch beim Klett-Cotta Verlag erschienen ist. (Quelle: https://www.nilswesterboer.de/leben/)

VISUALITÄT DES BUCHES

Das Cover passt gut zum Titel des Buches allerdings etwas nichtssagend in Bezug auf die gesamte Geschichte. Das Buch selbst ist in Schwarz gehalten, auch sehr passend zur erwähnten Thematik sowie zum Setting, welches zum größten Teil bei Nacht stattfindet. Weiterhin vermittelt es einen leichten Science-Fiction Eindruck, unterschlägt dabei aber die vielen anderen Facetten des Romans und könnte dadurch leicht in die Irre führen.

Das Cover wurde von Birgit Gitschier (Augsburg) mit der Zuhilfenahme eine shutterstock Abbildung erstellt.

FAZIT

Kernschatten ist eine leicht zu lesende Kriminalgeschichte die sich einige Elemente aus Wissenschaft, Thriller sowie Science-Fiction leiht und daher durchaus in das Genre des New-Weird fällt. Zwar lässt sich der Autor damit ein wenig Zeit, bis er dies vollständig offenbart, allerdings schadet das keineswegs der Geschichte, den Charakteren oder deren Entwicklung.

Seine Charaktere sind gut be- und umschrieben, sie wirken zu keiner Zeit unglaubwürdig, mögen ihre Entscheidungen noch so abstrus wirken. Gerade im letzten Drittel führt das dazu, dass man auf mehrere Ebenen mitfiebert. Wie entwickelt sich die Geschichte in ihrer Gesamtheit? Finden sich Charaktere, die bereits durch Ereignisse verbunden wurden? Und wie mag wohl alles sich am Ende zusammenfinden?

An dieser Stelle soll allerdings nicht mehr preisgegeben werden. Doch so viel sei gesagt, der Autor weiß mit seinen Figuren umzugehen, setzt sie gekonnt in Szene und setzt keinen zu weit in den Hintergrund oder zu sehr in den Vordergrund. Selbst die eigenwillige Kapitelunterteilung, welche zu Anfang noch ein wenig wirr zu seien scheint, ergibt spätestens im zweiten Drittel Sinn und sorgt für einen interessanten sowie ansteigenden Aufbau der Spannung.

Am Ende wird nicht alles vollständig aufgelöst aber dies ist, in diesem Roman, auch nicht zwingend notwendig. Es regt zum nachdenken an und das über die letzte Seite hinaus was auch durchaus dazu führt, dass man den Roman ein weiteres Mal liest und einem dann gewiss einige Dinge auffallen, die man vorher als nebensächlich erachtete.

Für den angenehmen Preis dieses Werkes erhält man eine spannende Geschichte, die nicht in ein Genre Schublade gezwungen werden sollte, sondern sich gerne frei entfaltet und dabei auf vielen Ebenen unterhalten kann.

1 Gedanke zu „Kernschatten (Nils Westerboer, 2023) – Wie finster kann eine Nacht werden?“

Schreibe einen Kommentar